Eindrücke aus der Ferne von der 86. Deutschen Schachmeisterschaft von RAYMUND STOLZE
Sie sind daran Schuld, dass ich mich erneut zu Wort melde! Na ja, ich hatte ja schon Hoffnung, was die Einschaltquote angeht, also die täglichen Aufruf unserer „inoffiziellen“ Webseite zur 86. Deutschen Schachmeisterschaft. Und am gestrigen Montag [7. Dezember] war es dann wirklich soweit, denn an diesem fünften Spieltag fiel nicht nur erstmals die 10.000er Marke, sondern es waren genau 11.012 Aufrufe. Hier also Teil 4 meines Saarbrückener DEM-Mosaiks!
+++ ZWISCHENBILANZ +++
Am heutigen Dienstag [8. Dezember] sind genau zwei Drittel der Meisterschaft für die 36 Teilnehmer geschafft. Jeder von Ihnen kann also seine ganz persönliche Zwischenbilanz ziehen – ich mache das aus meiner Sicht.
Turnierseite
Das Starterfeld ist in jedem Fall sehr ausgeglichen. Zwischen dem derzeitigen Spitzenreiter Klaus Bischoff 5/6 [Elo-Durchschnitt der Gegner [2513] und dem 16. Christian Braun [3,5/6] liegen gerade einmal 1,5 Punkte. Dass Vitali Kunin – der war im Vorjahr bereits Dritter – ebenfalls 5/6 aufweist, jedoch im Elo-Durchschnitt bei 2427 deutlich Aufholbedarf hat, sei erwähnt. Nach dem Spitzenduo hat sich eine Verfolgermeute mit sieben Mann gebildet, die jeweils 4/6 haben.
Was den Klaus angeht, dem seit dem Rückzug von Helmut Pfleger ganz sicher beliebtesten Schachmoderator hierzulande, so muss dem die Luft in Saabrücken liegen, wo er vor zwei Jahren im „fortgeschrittenen Alter“ von immerhin 52 Jahren völlig überraschend die Meisterkrone holte. Und die Auslosung für Runde 7 meint es auch gut mit ihm. Während der Stammspieler des FC Bayern München auf Dmitrij Kollars [4/6] vom Hamburger SK trifft, muss Vitali gegen Titelverteidiger Daniel Fridman [ebenfalls 4/6] ran, und das noch dazu mit Schwarz. Für den bislang dreifachen Meister ist das sicherlich die letzte Chance, noch einmal voll anzugreifen. Vorausgesetzt der 39-Jähige Nationalspieler gewinnt die letzten drei Runden, dann geht sicherlich noch etwas, wobei Daniel im Vorjahr in Verden den Titel mit 7,5/9 gewann. Ist jetzt allerdings schon nicht mehr drin für ihn …
+++ DIE „JUNGEN WILDEN“ +++
Ich spüre das bis nach Hönow in Märkisch-Oderland: Die „jungen Wilden“ stehen ganz sicherlich unter genauester Beobachtung vom Bundesnachwuchstrainer. Bernd Vökler betreut schachlich jedoch den elfjährigen Vincent Keymer, und der hat bereits mit 3,5/6 sein Meisterschaftsergebnis vom Vorjahr eingestellt. Alles was folgt, ist Zugabe, oder auch ein sichtbares Zeichen für seine sportliche Entwicklung. Und es hätte in Runde 6 gegen Johannes Carow durchaus noch ein halber Punkt mehr sein können. Doch sehen Sie selbst!
In einem Grünfeld-Inder/Hauptfortsetzung [D85] hatte Schwarz nach 1.d4 Sf6 2.c4 g6 3.Sc3 d5 4.cxd5 Sxd5 5.Sf3 Lg7 6.Sa4 0–0 7.e4 Sb6 8.Le3 Sxa4 9.Dxa4 c5 10.Td1 Lg4 11.dxc5 Dc7 12.Da3 Sd7 13.Le2 b6 14.b4 a5 15.cxb6 axb4? [15…Sxb6 war stattdessen Pflicht, obwohl Weiß dann auch deutlich besser steht.] sich bereits in eine Verluststellung manövriert.
Weiß musste jetzt nur 16.bxc7 spielen, und nach 16…Txa3 17.h3 Lxf3 18.gxf3 sieht es mehr als finster für Schwarz aus. Stattdessen zog Vincent jedoch 16.Dxa8, und seinem Gegner muss ein Stein vom Herzen gefallen sein, denn er antworte 16…Dx3+, was ihm wieder Luft zum Atmen verschaffte. Die Partie endete dann nach 56 Zügen remis.
In der Tabelle liegen Rasmus Svane, Alexander Donchenko und Dmitrij Kollars [alle 4/6[ auf dem Plätzen 3, 7 und 9. Johannes Carow und Vincent Keymer [beide 3,5/6] folgen auf 11 und 13. Da geht bestimmt noch etwas. Ob es allerdings Silber wird wie 2014 für Dennis Wagner bleibt abzuwarten. Ernst zu nehmen ist „Jugend forscht“ in jedem Fall.
+++ IN MEMORIAM +++
An dieser Stelle gilt es an einen sympathischen Schachspieler, „eloquenten Mathematiker“, wie ihn unsere Autor Hartmut Metz in einem Beitrag zu seinem 70. Geburtstag vor einem guten Jahre charakterisierte [http://www.rochade-kuppenheim.de/eloquenter-mathematiker/] und einen Mann mit enormer künstlerische Begabung zu erinnern, wie Michael Dombrowsky in seinem Nachruf bei ChessBase schreibt [http://de.chessbase.com/post/dr-helmut-reefschlaeger-verstorben], der seit frühster Jungend Klavier spielte [was bei einer Klavierlehrerin als Mutter wenig überrascht[ und mit 19 Jahren den ersten Kompositionswettbewerb in NRW gewann…
Dr. Helmut Reefschläger [6. April 1944 bis 3. Dezember 2015] wird ganz sicherlich nicht nur als Mannschaftskapitän und unermüdlicher Punktesammler seiner zweiten Mannschaft vom OSF Baden-Baden fehlen.
Leider gibt es bisher bei WIKIPEDIA kein Portrait von ihm – das hätte sicherlich zu Lebzeiten geschehen müssen, wo der Autor ihn hätte fragen können. Ob es beispielsweise stimmt, dass Helmut 25 Länderspiele für Deutschland absolviert hat – in der mir bekannten DSB-Statistik taucht er nicht einmal auf. Bei der Recherche in der ChessBase-Datenbank bin ich auf immerhin 14 zwischen 1975 und 1973 gekommen. Und bei Deutschen Meisterschaften hat er es seit der Premiere 1974 in Menden auf immerhin sechs Teilnahmen gebracht – die letzte war 1999 in Altenkirchen, wo sich Robert Hübner zum zweiten Mal den Titel holte.
Was Helmut für eine scharfe Klinge geschlagen hat, beweist die folgende Bundesliga-Partie. Die spielte er 1991 gegen den späteren Bundestrainer und heutigen DSB-Sportdirektor Uwe Bönsch für seinen Hamburger SK gegen den FC Bayern München.
Dr. Reefschläger, H. [2380]–Bönsch, U. [2470]
Bundesliga Deutschland 1991
Sizilianische Verteidigung [B21]
1.e4 c5 2.f4 d5 3.Nc3 dxe4 4.Nxe4 e6 5.Nf3 Be7 6.b3 Nf6 7.Nf2 Nd5 8.g3 Nc6 9.Bb2 f6 10.Bg2 0–0 11.0–0 Bd7 12.Qe2 Qb6 13.f5 Nc7 14.Nh4 Rf7 15.Be4 Nd4 16.Bxd4 cxd4 17.fxe6 Qxe6 [Na, ahnen Sie schon, wo es knallen wird?]
18.Bxh7+! Kxh7 19.Qh5+ Kg8 20.Ng6 Rff8 21.Rae1 Rfe8 22.Rxe6 Bxe6 23.Nd3, und Schwarz hatte genug gesehen … 1–0
Für den kommenden Sonntag [13. Dezember] hatte „Reefi“, wie ihn seine Freunde nannten, fest gehofft, im Baden-Badener Zweitliga-Team gegen den SV Hofheim aufzulaufen. Daraus wird nun nichts mehr: Helmut Reefschläger ist tot. Er verstarb am vergangenen Donnerstag – da wurde in Saarbrücken Runde 1 gespielt, an seinem zweiten Herzinfarkt …
+++ DER AUSSENSEITER +++
Im Teilnehmerfeld der DEM gibt es seit Jahren einen Freiplatz, den der Deutschen Blinden- und Sehbehinderten-Schachbundes [DBSB] erhält. Diesmal ist Dieter Riegler dabei, der sich die Fahrkarte nach Saarbrücken bei der Internationalen Offenen Deutschen Meisterschaft 2014 in Timmendorf sicherte. Der 64-Jährige „Turnier-Senior“ hat mit 16 Teilnahme an der DBSB-Einzelmeisterschaft wahrlich Blindenschach-Geschichte geschrieben. So hat Riegler von 1985 an allen Titelkämpfen teilgenommen und wurde dabei zwischen 1989 und 2011 neunmal deutscher Blindenschachmeister. Die Vorbereitung auf die möglichen Gegner bei der DEM 2015 hat übrigens der Bundestrainer der Blinden-Nationalmannschaft Wilfried Bode übernommen. Wie es der Zufall will, ist der FIDE-Meister vom Hamelner SV in Saarbrücken auch als Aktiver dabei. Und das sogar recht beachtlich, denn mit 4/6 [Elo-Durchschnitt 2420] liegt er aktuell auf einem hervorragenden sechsten Platz.
Einer der Vorgänger-Trainer von Winfried Bode bei der DBSB-Nationalmannschaft ist übrigens in den 1980er- Jahren Dr. Helmut Reefschläger gewesen. So war er u.a. bei der Blindenschach-Olympiade 1985 in Benidorm/Spanien, bei der Einzel-WM in Moskau 1986 und bei der Heim-WM in Wunsiedel 1990 für den DBSB tätig.
„Mich persönlich hat immer ganz besonders fasziniert, wie er in gemütlicher Runde eine Schachpartie ‚zelebrieren’ konnte. Die Aufmerksamkeit seiner Zuhörer war ihm da immer gewiss. Wir werden Helmut nicht vergessen!“, teilte mir Anton Lindenmair aus Augsburg in Folge 1548 der von ihm regelmäßig verfassten Info-Mail Schach mit. Wie wir sehen, hat Reefi“ echte Spuren im „Reich der Lebenden“ hinterlassen …
Dr. Helmut Reefschläger [1944-2015]
Foto: Georgios Souleidis